ÄSTHETIK DES RÄTSELHAFTEN, Konrad Tobler, 2010

Er sei dem „Kern des Problems um kein Haar näher gekommen“, sagt eine Frau im Video „The Edge of the Forest“. Er: Das ist ein Forscher, der mit verschiedenen, meist kaum nachvollziehbaren Versuchsanordnungen etwas – vielleicht die Geheimnisse der Natur, vielleicht bestimmte Gesetzmässigkeiten der Wald- und Berglandschaft – zu verstehen, zu ergründen, zu enträtseln versucht. Das Video aus dem Jahr 2007 ist in gewisser Weisse programmatisch für das Schaffen von Emanuel Geisser (* 1974 in St. Gallen, lebt heute in Berlin). Geisser gehört zu jenen Künstlern, die, wie etwa George Steinmann oder Florian Dombois, Kunst und Forschung verbinden. Geisser: „Als Künstler bin ich Forscher, Sammler und Abenteurer auf Expedition, ein Geschehen von rätslehaftem Ausmass umkreisend, in dem nicht zuletzt das Irrationale eine Hauptrolle spielt.“ Geissers Installationen, die häufig mit Videos verbunden sind, gleichen denn auch Laborsituationen: rotierende Spiegel, Lichteffekte, merkwürdige Gestelle, sich verschiebende Ebenen, schwarze Löcher bringen die Wahrnehmung in einen fast hypnotischen Zustand, in dem man nicht weiss, was genau vor sich geht. Aber diese Unschärfe gehört umgekehrt zur Präzision, mit der Geisser seine Versuchsanordnungen aufbaut.

Er sucht das Unbekannte, die Unbekannte, das, was er eben als „ein Geschehen von rätselhaftem Ausmass“ umschreibt. Indem er das mit künstlerischen Mitteln zu umkreisen versucht, bewegt er sich einerseits in der Suche nach dem, was Kunst im Unterschied zur exakten Wissenschaft wissen kann, und fragt so, wie Wahrnehmung – jener innerste Kern der Kunst: die Ästhetik – funktioniert; andererseits bewegt er sich damit in einem wahrnehmungs- und erkenntniskritischen Feld, das die Wissenschaften, wenn sie denn selbstreflexiv betrieben werden, ihrerseits schon immer umgetrieben hat.

Dazu zwei kurze Reflexionen aus der Frühzeit der neuzeitlichen Wissenschaften. Kants Diktum vom „Ding an sich“ besagt, dass es im Bereich des Erkennbaren innerhalb von Raum und Zeit immer etwas gebe, was nie und nimmer erkennbar sei: das „Ding an sich“. Und Goethe beschrieb in seinem Aufsatz „Der Versuch als Mittler von Objekt und Subjekt“ in gewisser Weise paradigmatisch Schwierigkeiten und Irrewege des Forschens und Erkennens: „Allein wenn der Beobachter eben diese scharfe Urteilskraft zur Prüfung geheimer Naturverhältnisse anwenden, wenn er in einer Welt, in der er gleichsam allein ist, auf seine eigenen Tritte und Schritte acht geben, sich vor jeder Übereilung hüten, seinen Zweck stets in Augen haben soll, ohne doch selbst auf dem Wege irgendeinen nützlichen oder schädlichen Umstand unbemerkt vorbeizulassen; wenn er auch da, wo er von niemand so leicht kontrolliert werden kann, sein eigner strengster Beobachter sein und bei seinen eifrigsten Bemühungen immer gegen sich selbst misstrauisch sein soll: so sieht wohl jeder, wie streng diese Forderungen sind und wie wenig man hoffen kann, sie ganz erfüllt zu sehen, man mag sie nun an andere oder an sich machen. Doch müssen uns diese Schwierigkeiten, ja man darf wohl sagen, diese hypothetische Unmöglichkeit nicht abhalten, das möglichste zu tun, und wir werden wenigstens am weitesten kommen, wenn wir uns die Mittel im allgemeinen zu vergegenwärtigen suchen, wodurch vorzügliche Menschen die Wissenschaften zu erweitern gewusst haben; wenn wir die Abwege genau bezeichnen, auf welchen sie sich verirrt und auf welchen ihnen manchmal Jahrhunderte eine grosse Anzahl von Schülern folgten, bis spätere Erfahrungen erst wieder den Beobachter auf den rechten Weg einleiteten.“

So komplex der Text erscheint, so sehr zielt er auf den Kern, dass der Kern der Dinge sich nicht fassen lässt, sich entzieht, sich verwandelt. Wer das ebenso komplexe Werk von Emanuel Geisser so sieht, hat vermutlich am ehesten wahrgenommen und verstanden, was dieser ein „Geschehen von rätselhaftem Ausmass“ nennt.